76 Prozent der erfassten Insektenarten nicht ausreichend von Schutzgebieten abgedeckt
Forschende fordern, Insekten bei der Ausweitung und Neuausweisung von Schutzgebieten stärker zu berücksichtigen
Leipzig/Jena. Die Zahl der Insekten geht in den letzten Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt zurück. Schutzgebiete könnten einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung bedrohter Insektenarten leisten, doch Forschende unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Queensland fanden jetzt heraus, dass 76 Prozent der erfassten Insektenarten weltweit nicht ausreichend durch Schutzgebiete abgedeckt sind. In der Zeitschrift One Earth empfehlen die Forschenden Entscheidungsträgern, die mit Abstand größte Artengruppe bei der Umsetzung der neuen Ziele der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt angemessen zu berücksichtigen.
Geschätzt über 80 Prozent aller Tierarten sind Insekten. Diese Artengruppe spielt in fast allen Ökosystemen eine entscheidende Rolle. Insekten bestäuben über 80 Prozent der Pflanzen, haben eine Schlüsselfunktion im natürlichen Nährstoffkreislauf und bei der Schädlingsbekämpfung und dienen Tausenden von Wirbeltierarten als wichtige Nahrungsquelle. Dennoch wurden Insekten in der Vergangenheit von Naturschutzprogrammen weitgehend übersehen – und selbst auf der Roten Liste der bedrohten Arten der Weltnaturschutzorganisation IUCN machen sie nur acht Prozent aus.
Frühere Studien haben gezeigt, dass Schutzgebiete bedrohte Insektenarten erhalten können, wenn sie auf dieses Ziel zugeschnitten sind und mit ihren Verbreitungsgebieten übereinstimmen. Um festzustellen, welcher Anteil der Insektenarten weltweit in Schutzgebieten vorkommt, hat ein Forschungsteam unter der Leitung von iDiv, UFZ und den Universitäten Jena und Queensland die Daten von 89.151 Insektenarten, deren Verbreitung in der größten Biodiversitätsdatenbank, der Global Biodiversity Information Facility (GBIF), registriert ist, mit globalen Karten von Schutzgebieten abgeglichen. Einen Anhaltspunkt für eine ausreichende Abdeckung von Arten durch Schutzgebiete bieten die Globalen Standards der IUCN für die Identifizierung von Schlüsselgebieten der biologischen Vielfalt (Key Biodiversity Areas).
Das Forschungsteam stellte fest, dass 76 Prozent der weltweit erfassten Insektenarten in Schutzgebieten nur unzureichend vertreten sind, darunter mehrere stark gefährdete Arten wie die Dinosaurierameise (Nothomyrmecia macrops), die Blutrote Hawaii-Wasserjungfer (Megalagrion leptodemas) und die Bärenspinnerart Apantesis phalerata. Bei 1.876 Arten aus 225 Familien überschneiden sich die weltweiten Verbreitungsgebiete überhaupt nicht mit Schutzgebieten.
Der Erstautor der Studie, Dr. Shawan Chowdhury, Postdoktorand am iDiv, UFZ und an der Universität Jena, zeigte sich überrascht über das Ausmaß der Unterrepräsentation. „Viele Insektendaten stammen aus Schutzgebieten, daher dachten wir, dass der Anteil der Arten, die in Schutzgebieten zu finden sind, höher sein würde“, sagt Chowdhury. „Das Defizit ist auch viel größer als bei Wirbeltieren, bei denen eine ähnliche Analyse eine unzureichende Schutzgebietsabdeckung für 57 Prozent der Arten ergeben hat.“
Insekten waren in einigen Regionen besser geschützt als in anderen, beispielsweise in Amazonien, Süd- und Mittelamerika, Afrika südlich der Sahara, Westaustralien und auch Mitteleuropa. In Nordamerika, Osteuropa, Süd- und Südostasien sowie weiten Teilen Australiens hingegen war der Schutz durch Schutzgebiete für viele Arten unzureichend.
„Insekten wurden bei der Ausweisung neuer Schutzgebiete häufig nicht als Schwerpunktgruppe berücksichtigt“, sagt Chowdhury. „In der Regel sind es die Wirbeltiere, auf die die Schutzziele zugeschnitten werden, und deren Anforderungen an den Lebensraum sind häufig ganz andere als die der Insekten. Für eine Artengruppe, die einen so großen Teil des Tierreichs ausmacht und vielfältige Ökosystemfunktionen erfüllt, ist das beunruhigend.“
Die Mitgliedsstaaten des UN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD) haben kürzlich ein neues globales Rahmenwerk für die biologische Vielfalt verabschiedet, unter anderem mit dem Ziel 3, das dazu aufruft, mindestens 30 Prozent der Land-, Binnengewässer-, Küsten- und Meeresflächen durch Schutzgebiete effektiv zu erhalten. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren sollten Insekten bei der Auswahl und Planung neuer Gebiete viel stärker berücksichtigt werden.
„Um dies weltweit umsetzen und den Erfolg effektiv bewerten zu können, sind jedoch wesentlich bessere Daten erforderlich, vor allem in Regionen mit hoher biologischer Vielfalt wie den Tropen, die in den Monitoringprogrammen bisher völlig unterrepräsentiert sind“, sagt Letztautor Prof. Richard Fuller von der Universität Queensland. „Bürgerwissenschaft könnte einen enormen Einfluss auf die Schließung der Datenlücke bei der Verbreitung von Insekten haben. Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger müssen jetzt aktiv werden und bei der Ermittlung von Gebieten helfen, die für den Schutz von Insekten wichtig sind.“
Die Studie wurde u.a. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; FZT-118) unterstützt. Sie ist ein Produkt der sDiv-Synthesearbeitsgruppe sMon. iDiv’s Synthesezentrum sDiv finanziert Arbeitsgruppentreffen, bei denen Forschende aus aller Welt gemeinsam wissenschaftliche Fragen bearbeiten.
Sebastian Tilch
Originalpublikation:
(Forschende mit iDiv-Affiliation fett gesetzt)
Chowdhury, S., Zalucki, M. P., Hanson, J. O., Tiatragul, S., Green, D., Watson, J. E. M., Fuller, R. A. (2023): Three quarters of insect species are insufficiently represented by protected areas. One Earth. DOI: 10.1016/j.oneear.2022.12.003
Ansprechpartner:
Dr. Shawan Chowdhury
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ)
Tel.: +49 341 9733178
E-Mail: shawan.chowdhury@idiv.de
Prof. Richard Fuller
Universität Queensland/Australien
Tel.: +61 7 334 69912
E-Mail: r.fuller@uq.edu.au
Sebastian Tilch
Abteilung Medien und Kommunikation
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
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