17.08.2020 | MLU-News, iDiv-Mitglieder, Forschung, UFZ-News, Physiologische Diversität, iDiv, TOP NEWS

Ökosysteme: Was sagen Schwellenwerte wirklich aus?

In vielen Seen kommt es vor allem in der wärmeren Jahreszeit zu verstärkter Algenvermehrung, der sogenannten "Algenblüte“. (Bild: Adobe Stock)

In vielen Seen kommt es vor allem in der wärmeren Jahreszeit zu verstärkter Algenvermehrung, der sogenannten "Algenblüte“. (Bild: Adobe Stock)

Salzwiesen bilden einen natürlichen Übergang zwischen Land und Meer - und ein artenreiches Ökosystem. (Bild: Monika Feiling)

Salzwiesen bilden einen natürlichen Übergang zwischen Land und Meer - und ein artenreiches Ökosystem. (Bild: Monika Feiling)

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Umfangreiche Datenanalyse zeigt: Schwellenwerte aus Umweltdaten kaum ablesbar.

Basiert auf einer Medienmitteilung der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Oldenburg/Leipzig/Halle. Viele politische Maßnahmen, die die Folgen globaler Umweltveränderungen abmildern sollen, stützen sich auf das Konzept der sogenannten Kipppunkte. Demnach schlägt ein Ökosystem in einen anderen, oft schlechteren Zustand um, sobald eine Belastung, wie etwa der Verlust der biologischen Vielfalt, einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Ein Team aus Wissenschaftlern der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und weiterer internationaler Forschungseinrichtungen zeigt nun in Nature Ecology and Evolution, dass solche Schwellenwerte kaum zu identifizieren sind. Das Fokussieren auf solche Werte berge daher die Gefahr, die negativen Auswirkungen allmählicher Veränderungen auf Ökosysteme zu übersehen – mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen.

In den vergangenen Jahren sind viele ökologische Studien veröffentlicht worden, die das Kippverhalten von Ökosystemen aufzeigen. So können sich Korallenriffe in ein von kleinsten Algen dominiertes System wandeln, wenn zu viele Nährstoffe eingetragen werden. Das Konzept eines Schwellenwertes als Indikator dafür, wie Ökosysteme auf eine Belastung reagieren, ist mit einer Ampel vergleichbar: So lange die Ampel grün leuchtet, ist alles in Ordnung. Leuchtet sie gelb, steht ein Wechsel zu einem nicht erwünschten Zustand bevor (rot). Aus diesem Grund verlassen sich politische Entscheidungsträger zunehmend auf Schwellenwerte, um Strategien zum nachhaltigen Schutz von Ökosystemen zu entwerfen. Doch was, wenn wir darauf warten, dass die Ampel auf Gelb umschaltet – es aber gar keine Gelbphase gibt? Möglicherweise bemerken wir dann auch den schleichenden Übergang von Grün zu Rot nicht.

Das Forscherteam wollte deshalb herausfinden, ob sich Schwellenwerte aus den verfügbaren Umweltdaten überhaupt ableiten oder sogar vorhersagen lassen. „Denn um eine gute Umweltpolitik zu entwickeln, brauchen wir eine allgemeine Leitlinie“, betont Studienleiter Prof. Dr. Helmut Hillebrand, Direktor am Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg und iDiv-Mitglied. „Das Problem ist aber, dass Schwellenwerte in natürlichen Ökosystemen schwer zu erkennen sind, wenn die von Menschen verursachten Veränderung nicht besonders groß sind. Zudem können wir nicht für jeden Prozess in jedem Ökosystem tatsächlich Schwellenwerte festlegen.“

Um einen besseren Überblick darüber zu erhalten, wie Ökosysteme auf Veränderungen reagieren, griffen die Wissenschaftler auf bereits veröffentlichte Studien zurück, die sich vor allem mit den Folgen heutiger, aber auch zukünftiger Belastungen befassten, wie zum Beispiel erhöhter Kohlendioxid- oder Nährstoffgehalte. Die Studien bewerten auch die sogenannten funktionellen Reaktionen der Ökosysteme, also beispielsweise Veränderungen im Kreislauf der Elemente oder in der Produktion von Biomasse. Insgesamt verwendeten die Forscher Informationen aus 36 Meta-Analysen, die 4601 einzigartige Feldexperimente mit natürlichen oder naturnahen ökologischen Gemeinschaften umfassen.

Anhand der vorhandenen Daten berechneten die Autoren, wie stark ein System auf eine Belastung reagierte und testeten, ob das Ausmaß der Reaktion mit dem Grad der Belastung zusammenhängt. Treten bei einem bestimmten Belastungsgrad außerordentlich starke Reaktionen auf, gilt dies als Hinweis auf einen Schwellenwert.

„Die Ergebnisse waren verblüffend“, sagt Hillebrand. Während die überwiegende Mehrheit der Meta-Analysen ergab, dass zwar der Grad der Belastung das Ausmaß der Reaktion beeinflusst, wiesen nur sehr wenige (drei von 36) statistische Beweise für eine Überschreitung eines bestimmten Schwellenwerts auf. Die Tatsache, dass keine Schwellenwerte auftraten, könnte allerdings zweierlei bedeuten: Entweder sind die Werte tatsächlich nicht vorhanden oder sie existieren zwar, sind jedoch mit dem verwendeten statistischen Ansatz nicht nachzuweisen.

„Wenn sie aber schwer zu messen sind, dann sind sie, auch wenn sie existieren, möglicherweise kein guter Indikator dafür, wie es einem Ökosystem geht. Denn Ökosysteme können sich auf viele unerwünschte Arten verändern, für die es keinen eindeutigen Schwellenwert gibt“, sagt Prof. Dr. Stan Harpole, Leiter der Forschungsgruppe Physiologische Diversität bei iDiv und UFZ und Professor an der MLU. „Das hat auch unsere Studie gezeigt: Dass Schwellenwerte nicht so leicht zu ermitteln sind, aber dass die meisten Ökosysteme sehr stark auf Belastung reagieren.“

Die statistischen Analysen zeigten, dass selbst kleinste Umweltveränderungen große Folgen haben können. „Wenn wir darauf warten, dass als Reaktion auf eine der großen, vom Menschen verursachten Umweltveränderungen wie Erwärmung oder Veränderung der biologischen Vielfalt deutliche Kipppunkte zu sehen sind, laufen wir Gefahr, die kleinen, allmählichen Veränderungen zu übersehen. Diese können sich aber im Laufe der Zeit so aufsummieren, dass sich unsere Wahrnehmung, wie ein gesundes Ökosystem aussieht, verschiebt“, fügt Hillebrand hinzu. Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger sollten sich daher darauf konzentrieren, wie stark und wie lange Umweltschwankungen andauern und die möglichen Folgen im Blick haben, um künftig nach dem Vorsorgeprinzip handeln zu können.

 

Originalpublikation
(Wissenschaftler mit iDiv-Zugehörigkeit fett)

Helmut Hillebrand, Ian Donohue, W. Stanley Harpole, Dorothee Hodapp, Michal Kucera, Aleksandra M. Lewandowska, Julian Merder, Jose M. Montoya and Jan A. Freund. Thresholds for ecological responses to global change do not emerge from empirical data. Nature Ecology and Evolution (2020). DOI: 10.1038/s41559-020-1256-9

 

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Helmut Hillebrand
Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Tel.: 0441/798-8102
E-Mail: helmut.hillebrand@uol.de

 

Prof. Dr. Stan Harpole
Forschungsgruppenleiter Physiologische Diversität
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU)
Tel.: +49 341 9733171
E-Mail: stan.harpole@idiv.de

 

Kati Kietzmann(Deutsch)
Abteilung Medien & Kommunikation
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Tel.: +49 341 9733106
E-Mail: kati.kietzmann@idiv.de
Web: www.idiv.de/de/gruppen_und_personen/mitarbeiterinnen/mitarbeiterdetails/eshow/kietzmann_kati.html

 

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